Ein Einblick von Barry Lee

Ving Tsun ist eine intelligente und hochentwickelte Form des Kämpfens, welche bei richtigem Training ein extrem hohes Maß an “Gefühl”, “instinktiver Reaktion und “funktioneller Energie” entwickeln kann. Seine extreme Ausrichtung auf realistische Selbstverteidigung machen es zu einem kompromißlosen und effektiven Selbstverteidigungssystem.

Beispiele aus der Praxis zeigen immer wieder, wenn man während eines Kampfes stoppt und nachdenken muß, ist es meist zu spät. Wenn man dauernd seine Augen benutzen muß, um zu beobachten was der Gegner macht, ist es meist zu spät.

Wie einige andere Kampfstile lehrt auch das Ving Tsun spezielle Reaktionen auf bestimmte Angriffe. Um gerade diese Reaktionen auf ein Höchstmaß zu bringen, benutzt das Ving Tsun eine in der Kampfkunstszene einmalige Trainingsweise, das sogenannte “Chi Sao”.

Dieses Chi Sao entwickelt:

1. Das Agieren und Reagieren aufgrund »taktiler Reize« ( Fühlen )
2. Die Steigerung der Empfindlichkeit gegenüber Veränderungen in Bewegung, Größe und Kraft
3. Exakte und ökonomische Bewegungen
4. Flexibilität
5. Instinktive Reaktionen
6. Steigerung von Koordination und weiterführenden Bewegungen
7. Timing.
8. Distanzgefühl
9. Beinarbeit
10. Die Anwendung von Winkelstellungen bei Abwehr und Angriff
11. Erhaltung und Ausnutzung von Energie
12. Die Prinzipien des “Lat Sao Jet Chung”

Mit Hilfe des Lat Sao Jet Chung schult man eine anhaltende Vorwärtsbewegung (Energiefluß) und Kraft aus kürzester Distanz. Das Lat Sao Jet Chung wird oft falsch verstanden und interpretiert, es ist aber von unschätzbahrem Wert bei richtiger Anwendung. Eine Redewendung im Ving Tsun sagt:

»Nimm an was kommt, folge dem was geht und stoße vor wenn der Weg frei ist«.

Selbstverständlich kann man auch ohne Chi Sao Training ein guter Kämpfer werden, aber jemand der Chi Sao beherrscht ist unweigerlich ein sehr viel besserer Kämpfer.

Die Fähigkeit aus kürzester Distanz sehr viel Kraft zu erzeugen macht aus den Ving Tsun Kämpfer ausgezeichnete “Infighter”. Keinesweg entstehen dadurch Nachteile bei weit ausholenden Schlägen und Attacken, vielmehr läßt gerade dieses spezielle Nahkampftraining solche Angriffe viel langsamer erscheinen.

Beim Ving Tsun werden keine festen Bewegungsabläufe einstudiert, sondern man versucht durch Einhaltung und Anwendung von Prinzipien (die samt und sonders auf logischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren), möglichst alle Fehler auszuschließen. So entstand ein System das von seiner Theorie her 100% fehlerfrei sein kann. Durch menschliches Unvermögen wird es aber immer wieder zu Missachtungen der Prinzipien und somit zu Fehlern kommen. Und an dieser Stelle unterscheidet sich das Ving Tsun Kung Fu ganz wesentlich von anderen Systemen. Für jeden Fehler den man macht, gibt es im Ving Tsun probade Mittel und Wege, die einem helfen zum eigentlichen Vorhaben zurück zufinden. Kämpfen um zu gewinnen.

Gleichzeitigkeit von Abwehr und Angriff, Ökonomie der Bewegung, Erhaltung der Energie, und der richtige Krafteinsatz zur richtigen Zeit sind solche Prinzipien, und Eckpfeiler dieses aufregenden Stils.
Kicks und Tritte erfordern keine unnötige Dehnung. Sie werden in aller Regel auf die tieferen und empfindlichen Stellen des Gegners gerichtet, und dienen meist mehr der Unterstützung von Handtechniken.

Dieser Stil basiert nicht auf roher Gewalt, sondern auf eine durchdachte Koordination von Bewegungen, sinnvoller Einsatz von Winkeln zwischen Angreifer und Verteidiger und die Fähigkeit die Kraft des Gegners umzulenken und auszunutzen (im besten Falle sogar gegen ihn zu richten). Mit aus diesen Gründen eignet sich Ving Tsun auch hervorragend für Frauen.

Entgegen vieler anderer Behauptungen möchte ich aber alle Frauen warnen. Ving Tsun (und auch jedes andere Kampfsystem) ist nicht in der Lage, Frauen quasi von heute auf morgen zu unbesiegbaren Kämpferinnen werden zu lassen, die sich mit ein paar Tricks gegen jegliche Art von brutaler Gewalteinwirkung verteidigen können. Ich halte es für dringend notwendig, Frauen dahingehend zu schulen, daß sie sich schon vor einer möglichen Attacke richtig verhalten. Dinge wie z.B.: sicheres Auftreten (Gang, Blick und Stimme), genau zu wissen, was man tunlichst unterlassen sollte und die Erfassung der Umgebung haben großen Einfluß auf das eigene psychische Verhalten und somit auch auf die Angriffsbereitschaft des Gegners. Hat man sein eigenes Verhalten unter Kontrolle ist die Möglichkeit ungleich größer mit ein paar gezielten Schlägen, den Gegner zu bremsen, um wegzurennen oder ihm die Lust am Angreifen zu nehmen. Das beste wäre natürlich es würde erst gar nicht so weit kommen und beim richtigen Gebrauch dieser vorbeugenden Verhaltensmuster sind die Chancen groß, daß auch tatsächlich nichts passiert. Die Bezeichnung “Selbstverteidigung” wird von vielen falsch verstanden und interpretiert. Die Möglichkeit bei einer realistischen Auseinandersetzung mit dem Gegner, wie in einem Kinofilmen, zu spielen, sind in der Regel bei null anzusiedeln. Oder um es mit den Worten meines Sifu Wong Shun Leung zu sagen:

“Wie kann man sich verteidigen, wenn man nicht bereit ist zu kämpfen um zu gewinnen?”

Ving Tsun hat für jeden die geeigneten Hilfsmittel (Prinzipien, Techniken und praktische Übungen), um zu kämpfen und zu gewinnen.

Barry Lee